„Das kann jetzt aber noch nicht mein ganzes Leben gewesen sein!“

In die Praxis von Diplom-Psychologin Dr. Eva Maria Glofke-Schulz kommen Patientinnen und Patienten mit verschiedensten Sorgen und Diagnosen, darunter auch Menschen, die einen Verlust ihrer Sehkraft verkraften müssen. Die Angst vor Erblindung, den oder die Partnerin zu verlieren oder im Alltag hilflos zu sein - die Sorgen der Betroffenen sind vielfältig. Die Erfahrung der selbst erblindeten Psychologin: "Wir haben eine Widerstandskraft gegen Schicksalsschläge und von Natur aus eine Bereitschaft, uns an die neue Situation anzupassen".

 

Erschienen am 22.05.2024

Frau mit Blindenhund im Park

Dr. Eva Maria Glofke-Schulz ist im jungen Erwachsenenalter aufgrund einer angeborenen Netzhauterkrankung, der Retinitis pigmentosa (RP), erblindet. Die vor allem für ihre Eltern niederschmetternde Diagnose wurde gestellt, als sie 4 Jahre alt war. Heute ist sie 65 Jahre alt und arbeitet seit über 30 Jahren als psychologische Psychotherapeutin in ihrer eigenen Praxis. Zusätzlich berät sie Menschen mit Netzhauterkrankungen bei der Patientenorganisation PRO RETINA e.V. Gemeinsam mit ihrem Mann und ihrem Blindenführhund Max lebt sie im Süden Bayerns. Sie ist Oma von 4 Enkeln und zudem engagierte und begeisterte Sängerin in einem Konzertchor.

 

Wie hat sich die Erkrankung bei Ihnen entwickelt?

Die Zeit der Sehbehinderung wurde mit den Jahren immer anstrengender. Im Sinne von Kopfschmerzen kriegen, beim Versuch was zu sehen, mich zu verschätzen, zu glauben, ich sehe was und sehe es doch nicht und liege auf der Nase. Als dann das letzte Fünkchen Licht weg war und ich absolut nichts mehr sah, war ich total erleichtert. In den Ohren von Außenstehenden mag das etwas seltsam klingen, aber vielen anderen Betroffenen geht es ähnlich wie mir. Ich habe mich schlagartig entspannt und dachte: „so schlimm ist es doch überhaupt nicht und jetzt brauchst du dich nicht mehr anzustrengen“. 

 

Erinnern Sie sich an das Gefühl, als Ihnen klar wurde, dass Sie aufgrund einer Netzhauterkrankung erblinden werden? 

Ich hatte natürlich Angst vor dem Tag X. Und ich hatte, wie alle in einem Erblindungsprozess, mit Ängsten zu kämpfen. Ich habe mich gefragt: Wie wird das sein? Wie wirst du klarkommen? Auf einem Auge war ich tatsächlich von klein an schon blind, insofern konnte ich es jederzeit probieren, wenn ich das andere Auge zugemacht habe. Aber es ist anders. Kein Licht wahrzunehmen ist anders als die Augen zu schließen.

Andererseits nahm ich mich als Kind oft gar nicht als behindert wahr und lebte mit Höhen und Tiefen ein recht normales Leben. Lange fand ich es völlig logisch, im Dunkeln nichts zu sehen - bis ich merkte, dass andere um mich herum nicht nachtblind waren. So relativ ist das alles eben.

 

Was sieht man, wenn man blind ist?

Man denkt ja, dass alles dunkel ist, wenn man blind ist. Aber bei mir ist es so, dass ich einen komischen Rhythmus habe: Jeden 2. Tag ist es dunkel, entweder tiefschwarz, das finde ich am angenehmsten, oder ich sehe dunkelgrau und schlierig. Am nächsten Tag habe ich dann grellweiß vor den Augen, das ist viel unangenehmer und ich brauchte einige Monate Zeit, um mich an dieses seltsame Phänomen zu gewöhnen.

 

Das können Sie sich so vorstellen: Sie stehen in 3000m Höhe auf einem Gletscher, die Sonne scheint, es ist gleißend heller Schnee und Sie haben keine Sonnenbrille auf.

Wie haben Sie sich mit der Situation arrangiert?

Mit diesem Erblindungsprozess geht immer auch die Angst einher: Werde ich morgen noch das tun können, was ich heute kann? Bin ich morgen noch der Mensch, der ich heute bin? Wie geht es weiter? Welchen Verlust muss ich morgen betrauern? Diese ganzen Ungewissheiten bleiben so lange, bis der Prozess abgeschlossen ist. Wenn ich mit der Lupe nicht mehr sehen kann, aber Hafermilch und Sojamilch im Kühlschrank habe, muss ich überlegen, wie ich die beiden künftig unterscheide. Dann wird es auch lösungsorientiert und mir fällt ein, dass ich ein Foto mit dem Handy machen und mir das Etikett vorlesen lassen kann. Niemand weiß, was morgen ist, so ist einfach das menschliche Leben. Wir müssen uns ständig auf neue Situationen einstellen und kreativ sein - dümmer wird man davon übrigens nicht und lernt zudem, dankbar für jeden guten Moment und für jede entdeckte Ressource zu sein.

 

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Neovaskuläre altersabhängige Makuladegeneration (nAMD/feuchte AMD), diabetisches Makulaödem (DMÖ) und retinaler Venenverschluss (RVV): Angst vor Hilflosigkeit

Im Rahmen Ihrer Arbeit erleben Sie Menschen, die ebenfalls mit der Diagnose einer Netzhauterkrankung zurechtkommen müssen. Was beschäftigt die Betroffenen am meisten? 

Die intensivste Angst, die ich erlebe, ist die vor dem ausgeliefert sein und der Hilflosigkeit. Die Menschen fühlen sich ohnmächtig, haben Angst, dass sie ihren Alltag nicht mehr bewältigen können, dass sie ins Altersheim müssen oder dass sie die Enkelkinder nicht mehr sehen können. Eine magische Grenze ist für viele Menschen der Führerschein: Was ist, wenn ich nicht mehr Auto fahren kann? Oft leidet auch das Selbstwerterleben und man muss erst wieder verstehen, welche Fähigkeiten bleiben oder neu entwickelt werden können.

 

Viele können sich gar nicht vorstellen, einen Spaziergang zu genießen, weil sie die Blumen auf der Wiese nicht mehr sehen. Sie können sich schwer vorstellen, welche anderen Qualitäten einen Spaziergang trotzdem schön machen können.

Welchen Einfluss kann die nachlassende Sehkraft auf die mentale Gesundheit haben? 

Im höheren Lebensalter ist es deutlich schwieriger, die Erkrankung zu verarbeiten und sich vor allen Dingen auch neu zu orientieren. Gleichzeitig sollen die Betroffenen auch noch die Techniken lernen, die nötig sind, um ein selbstbestimmtes Leben zu führen. Bestand zuvor schon ein seelisches Problem, wird es nicht leichter. Da ist eine Form von Begleitung wichtig. Das muss nicht immer die professionelle psychotherapeutische Hilfe sein. Liebevolle Angehörige und das Gefühl, nicht alleine zu sein, helfen auch. Selbsthilfeorganisationen sind ganz wichtig, da gibt es Menschen, die die Probleme kennen, beraten und einspringen können. Es kann gut sein, dass Betroffene dann morgens aufstehen, sich an der Nase kratzen und sagen: „Moment mal, das kann jetzt aber noch nicht mein ganzes Leben gewesen sein!“ Dieser Impuls ist oft schon die halbe Miete.

 

Das Positive dabei ist, dass wir Menschen mit einem gewissen Maß an Resilienz auf die Welt kommen oder sie im Laufe des Lebens erwerben. Wir haben eine Widerstandskraft gegen Schicksalsschläge, die Bereitschaft, uns zu motivieren, und eine Bereitschaft, uns an die neue Situation anzupassen.

Wie können Sie dann als Psychotherapeutin helfen?

Da ich selbst blind bin, habe ich neben der therapeutischen Arbeit auch eine Modellfunktion: Betroffene kommen zu mir in die Praxis und sind der Überzeugung, dass sie blind gar nichts mehr tun können. Dann sehen die mich hier durchs Haus laufen, arbeiten, am PC sitzen und Termine vereinbaren. Sie lernen meinen Blindenführhund kennen, sehen mich mit dem Handy telefonieren und bekommen mit, dass ich Hilfsmittel benutze. Wenn die Menschen dann anfangen zu fragen, weiß ich, dass etwas in ihrem Hinterkopf dämmert. Es könnte also sein, dass man doch nicht völlig hilflos ist, auch wenn man nicht mehr viel sieht.

 

Es gibt irgendwo eine Tür, und die muss man finden: als Begleitung, als Therapeutin oder Therapeut und letztlich auch der oder die Betroffene selbst. Wenn die erste Tür einen kleinen Spalt offen ist, dann ist ein guter Teil schon mal geschafft.

Inhaltlich geprüft: M-DE-00021062, M-DE-00022869